Vom Labor mit Mathematik in die Klinik - Bedeutung für medizinische Fortschritte

Vom Labor mit Mathematik in die Klinik - Bedeutung für medizinische Fortschritte

Viele experimentelle Ergebnisse erreichen die Patienten nur über mathematische Modelle. Der Computerwissenschaftler Dr. habil. Dirk Drasdo, ein Experte für Simulationen im systembiologischen Forschungsnetzwerk zur Leber, LiSyM, erklärt, wie Modelle bedeutend zum medizinischen Fortschritt bei akuten und chronischen Störungen der Leber beitragen können.

„Es besteht Verdacht auf akuten Leberschaden“, sagt der Arzt. Patient X hat wahrscheinlich eine Überdosis des Schmerzmittels Paracetamol eingenommen. Noch in der Notaufnahme gibt er Blutproben ab und durchläuft gleich danach eine Hochgeschwindigkeits-Tomographie. Alle Ergebnisse fließen automatisch in das Diagnosewerkzeug Virtuelle Leber ein. Mit den Patientendaten passt der Computer das mathematische Modell individuell an. Wenige Augenblicke später liefert die Virtuelle Leber personalisierte Antworten auf die wichtigsten Fragen: Wie groß ist der Leberschaden bei Patient X? Stimmt das Schadensmuster mit der Verdachtsdiagnose überein? Wird sich Patient X von selbst erholen? Wenn nicht, reicht es aus, ihm Medikamente zu geben, oder müssen ihn die Ärzte für eine Transplantation vorbereiten?


Zuverlässige personalisierte Aussagen über Zustand, Therapieoptionen und Prognose

Diese Szene ist fiktiv – ein Blick in die Zukunft. „Ich bin überzeugt, dass wir dahin kommen“, betont Dr. habil. Dirk Drasdo. Der renommierte Systembiologie-Experte verfolgt ein Ziel, das er in LiSyM vorantreibt: „Wir wollen schrittweise eine virtuelle Leber erzeugen, die sich individuell anpassen lässt, so gut es geht.“ Wie oben soll das mathematische Modell einmal ohne Biopsien oder größere Eingriffe in den Körper zuverlässig personalisierte Aussagen liefern über Zustand, Therapieoptionen und die Prognose. Noch liegt der Fokus dabei auf akuten Intoxikationen. „Wir haben ein Akutmodell und zuletzt im LiSyM-Forschungsnetzwerk auch eines dafür integriert, wie sich ein chronischer Leberschaden entwickelt“, sagt der promovierte Physiker, der sich in Computerwissenschaften habilitiert hat. „Unsere Simulation basiert aktuell noch auf Daten, die aus Experimenten an der Maus stammen“, fährt er fort: „Die nächste Aufgabe ist der Übergang zu den Patienten.“ Sein Team arbeitet an einem Modell, das den menschlichen Zustand bei verschiedenen Lebererkrankungen abbildet.


Modelle können unser Verständnis über die Prozesse in der Leber erweitern

Schon jetzt hat das Modell das Wissen um Stoffwechselvorgänge in der Leber erweitert. Nach einer Überdosierung mit Paracetamol ist die Detoxifizierung von Ammoniak in der Leber massiv gestört: Der Körper baut Ammoniak nur noch sehr schlecht ab. Seine Konzentration im Blut steigt stark an, was mitunter zu tödlichen Schäden führt. „Das gängige Erklärungsmodell konnte die Ammoniak-Konzentrationen, die wir beobachtet haben, nicht erklären“, sagt Drasdo. Der Forscher und seine Arbeitsgruppe justierten ein paar Parameter in ihrem Mausmodell anders und fügten einen weiteren Mechanismus hinzu. Ein Abbauweg führt über die Aminosäure Glutamat. Allgemein galt als sicher, dass die katalysierte Reaktion, bei der Glutamat vom Enzym Glutamatdehydrogenase in Ammoniak überführt wird, irreversibel ist. Der neue Erklärungsansatz, den die Computermodelle von Drasdos Team 2014 nahe legten [1], lässt dagegen zu, dass diese Reaktion auch in der umgekehrten Richtung ablaufen kann. Dadurch kann bei hoher Ammoniakkonzentration eine Ammoniaksenke entstehen, wie 2014 vorhergesagt.


Auch Patienten könnten vom Mausmodell profitieren

„Auf unseren Vorschlag hin haben Fachleute aus der Abteilung Hengstler am Leibniz Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund (IfADo) den neuen Ansatz in vivo überprüft, also in lebenden Organismen“, erzählt Drasdo. In Mäusen ist genau der prognostizierte Mechanismus zu finden. „Die Wissenschaftler aus dem IfADo konnten daraus einen neuen Therapieansatz ableiten“, fährt er fort. Die entsprechende Behandlung [2] erreichte im Versuch, dass alle Mäuse eine Paracetamol-Überdosis überlebten. „Das könnte auch bei Menschen funktionieren.“, glaubt Drasdo.


Viele experimentelle Ergebnisse kommen einzig über Modelle in die Klinik

Zu den Patienten können viele experimentelle Ergebnisse ausschließlich über mathematische Modelle kommen: Hier fügen sich Resultate aus allen Quellen zu einem nützlichen Ganzen zusammen – in vitro Ergebnisse aus dem Reagenzglas, solche aus Gewebeproben, Zellkulturen und ganzen Organismen. Außerdem darf und will niemand Personen im Dienst der Medizin vergiften. „Experimente zur Toxizität von Substanzen am Menschen sind in den meisten Fällen nicht vertretbar“, sagt Drasdo mit Nachdruck. So bleibt nur der Umweg über andere Quellen. Dazu gehört auch der Ansatz, von Resultaten aus dem Reagenzglas auf die Situation im realen Leben zu schließen, so der Forscher: „Modelle, die das bei Menschen schaffen, sind für uns so etwas wie der heilige Gral!“ Denn die komplexen Modelle zu entwickeln und aufzubauen, erfordert viel Zeit und Aufwand. Unzählige Ergebnisse aus Chemie, Physik, Biologie, Pharmazie, Medizin und anderen Fachdisziplinen fließen in Form mathematischer Formeln ein. Auch technisch ist das höchst anspruchsvoll: für machen Teilschritte sind tausende Simulationen notwendig [Link zu Teil II].


Ein chronischer Pfad zur Leberzirrhose ist ebenfalls enthalten

Drasdos mausbasiertes Akut-Simulationsmodell bildet quantitativ ab, welches Ausmaß an akuten Schäden verschieden hohe Dosen an Giften in der Leber verursachen. Es sagt voraus, wie gut oder schlecht sich das Organ regeneriert. Nach Akutschäden läuft die Regeneration der Leber aber völlig anders ab als nach chronischen Schäden. Drasdos Modell stellt mittlerweile auch einen chronischen Pfad zur Leberfibrose in Mäusen weitgehend nach. Auf diesem Pfad führen viele wiederholte Überdosen von Paracetamol zur Ausbildung von charakteristischen räumlichen Einlagerungsmustern von extrazellulärem Material, die Ärzte auch bei Patienten beobachten. Für diesen Pfad haben Drasdo und seine Arbeitsgruppe in LiSyM viele weitere Zelltypen aus der Leber in das ursprüngliche Modell integriert. Sie haben die räumliche Auflösung erhöht, die Bildung und den Abbau bestimmter extrazellulärer Matrixproteine in das Modell integriert. „Mehr ist auf dem diesem Level vermutlich nicht notwendig“, so der Experte.


NAFLD ist ein großes gesellschaftliches Gesundheitsproblem

Chronische Leberschäden können noch andere, unterschiedliche Ursachen haben, etwa jahrelangen überhöhten Alkoholkonsum, eine virale Hepatitis oder langjährige Fehlernährung. Im letzten Fall sprechen Fachleute von einer nicht-alkoholischen Fettleber NAFLD. Wissenschaftler können diese Störung im Tiermodell über den Konsum der so genannten „Western diet“ nachstellen, die sich unter anderem durch einen hohen Anteil gesättigter Fettsäuren auszeichnet. Gerade die Häufigkeit der NAFLD in der Bevölkerung nimmt erheblich zu. Die Erkrankung ist ein großes gesellschaftliches Gesundheitsproblem. Langfristig führen chronische Leberschäden, unabhängig von ihren Ätiologien oder Entstehungswegen, oft zur Leberfibrose und Leberzirrhose. Geeignete Therapien können eine Leberfibrose noch rückgängig machen. Das ist bei Leberzirrhose nicht mehr möglich. Darum drängen die Leberfachleute darauf, weitere Werkzeuge zu entwickeln, mit denen sich diese Erkrankungen besser diagnostizieren, überwachen und therapieren lassen.


Kompromisse in der Modellentwicklung rächen sich später meistens

Das Mausmodell ist zumindest teilweise auf Menschen übertragbar. „Aus der Evolution wissen wir, dass es viele Analogien gibt“, sagt Drasdo, „Zum Beispiel nach Paracetamol-Vergiftungen beobachten wir bei beiden Organismen die gleichen Schäden.“ Wie weit die Übereinstimmungen reichen, werden weitere Vergleiche und Validierungen an humanem Material erweisen: mit Blutmarkern, Biopsieproben, Aufnahmen aus modernen bildgebenden Verfahren und anderen. Auf erste klinische Anwendungen hofft Drasdo in drei bis vier Jahren. „Wir tasten uns über bescheidene Modellversionen an das Große heran“, sagt er und betont die Wichtigkeit stabiler finanzieller Förderung: „In der Realität laufen wir leider dauernd ausreichenden Mitteln hinterher, und dieser permanente Mangel führt zu Kompromissen, die sich später oft rächen!“


„Am Ende steht der virtuelle Patient“

Drasdo hat eine klare Vision. Irgendwann soll sein Modell Teil eines übergeordneten werden, das von der molekularen Ebene bis zum kompletten menschlichen Körper reicht: „Am Ende steht der virtuelle Patient.“ Dieses Modell soll dann nicht nur Stoffwechselwege, Zellformveränderungen, Schäden und Regeneration nach akuten und chronischen Ereignissen und andere Vorgänge in der Leber nachbilden. Es muss sämtliche Organe und Prozesse im Körper umfassen. Ein großes Vorhaben.
Vorerst visiert Drasdo mit seinem Modell kleinere Ziele an. Nach einer gleich hohen Überdosierung von Paracetamol sterben manche Menschen, während andere schadlos überleben. Wer sich erholt und wer nicht, können Fachleute bei den Patienten derzeit nicht vorhersagen. Daher ist es wichtig, dass gute Therapien zur Verfügung stehen, um Todesfälle zu vermeiden. Dazu trägt Drasdos Modell vielleicht bald bei: Die erwähnte neue Therapie, die sein Modell für Mäuse angestoßen hat, lässt sich ja womöglich auf Menschen übertragen. „Ich wäre glücklich, wenn unser Modell einen positiven Impact für die Gesellschaft hätte“, sagt Dirk Drasdo, „Wenn es also zu ein oder zwei Anwendungen führen würde, die Leberpatienten wirkungsvoll helfen.“

[1] Schliess, F., Hoehme, S., … D., Drasdo, D., Zellmer, S. (corresponding authors) (2014) Integrated metabolic spatial-temporal model for the prediction of ammonia detoxification during liver damage and regeneration. Hepatology 60 6, 2040–51
[2] Ghallab, A., Celiere, …, D., Drasdo
, D., Gebhardt, R., Hengstler, J.G. (*senior authors). (2016) Model guided identification and therapeutic implications of an ammonia sink mechanism. J. Hepat, 64(4):860-71.

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